In dieser Episode geht es um die Lebenswege von Charlotte McClain-Nhlapo, Global Disability Advisor der Weltbank-Gruppe und Katrin Langensiepen, EU-Abgeordnete für die deutschen Grünen.
Wir stellen zwei inspirierende Frauen mit Behinderung aus den Bereichen Politik und Wirtschaft vor. Beide setzen sich für die Rechte und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung ein: Katrin Langensiepen ist seit 2019 Abgeordnete im EU-Parlament für die deutschen Grünen. Charlotte McClain-Nhlapo ist seit 2014 „Global Disability Advisor“ bei der Weltbank. Beide haben wir im Frühjahr im Rahmen der Zero-Conference 2023 in Wien zum Gespräch getroffen. Die englischen Gesprächspassagen haben wir kurz auf Deutsch zusammengefasst. Viel Spaß beim Hören!
Das ungekürzte Gespräch mit Katrin Langensiepen könnt ihr im Podcast von dabei-austria nachhören. Dabei-austria ist der Dachverband für berufliche Integration. In diesem Podcast "Dabei sein im Arbeitsleben - Chancen für alle" stellt euch Sandra Knopp Jugendliche vor, die nach beruflichen Perspektiven suchen und jene Menschen, die sie dabei unterstützen. Es geht darum, wie das Netzwerk für Berufliche Assistenz neue Jobchancen schafft. Hört rein in die Lebensgeschichte eines jungen Kochs, der für seinen Traumberuf von Spanien nach Österreich übersiedelte. Oder wie Inklusion in einem Katzencafé funktioniert.
Wir danken dabei-austria für die Zurverfügungstellung des Materials!
Fotocredit: Pepo Schuster, Zero Project
Moderation: Herzlich Willkommen bei Freakcasters, sagt Sandra Knopp. In der heutigen Episode stellen wir euch zwei inspirierende Frauen mit Behinderung aus den Bereichen Politik und Wirtschaft vor. Beide setzen sich für die Rechte und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ein – Kathrin Langensiepen ist seit 2019 Abgeordnete für die deutschen Grünen im EU-Parlament. Charlotte McClain-Nhlapo ist 2014 „Global Disability Advisor“ bei der Weltbank. Beide haben wir im Frühjahr im Rahmen der Zero-Conference 2023 in Wien zum Gespräch getroffen. Die englischen Gesprächspassagen fassen wir kurz auf Deutsch zusammen. Wir beginnen die Sendung mit Charlotte McClain-Nhlapo. Geboren wurde sie in Eswatini, einem kleinen monarchisch regierten Binnenstadt im südlichen Afrika. Ihre Kindheit hat sie unter anderem auch in Sambia und Lesotho verbracht. Ihre Mutter stammt aus Südafrika, ihr Vater aus den USA, aus Indiana. Wegen der Apartheid war für sie und ihre Familie ein Aufwachsen in Südafrika undenkbar.
McClain-Nlapo: I actually did not grow up in South Africa because of apartheid. So my father's white, my mother is black. And they couldn't live in South Africa as a family, as a married couple. And so we lived outside of South Africa. And so I was very from a very young age, I was very aware of apartheid. I was aware of the ills of apartheid.
Moderation: Apartheid meint die strikte Trennung und systematische Unterdrückung wegen der Hautfarbe, so wie sie in Südafrika in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung schwarz war, war die politische und wirtschaftliche Macht in weißer Hand. Schwarze Menschen wurden im Alltag diskriminiert und ausgegrenzt. Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen waren gar per Gesetz, dem „Immorality Act“, untersagt. Genau das traf auch auf die Eltern von Charlotte zu, denn ihre Mutter ist schwarz, ihr Vater weiß. Ihre Eltern kämpften gegen das Arpatheidsregime. Das hat auch Charlotte McClain-Nhlapo geprägt.
McClain-Nlapo: I could understand, you know, heard a lot about discrimination. And so I then decided that I wanted to study law because I saw law as a social tool, a tool to address, you know, injustice. And that's what I've done. And so I think it was it was very formative for me in the sense that it enabled me to understand how a systemic exclusion can be highly detrimental. And enabled me to kind of decide that this was what I wanted to focus on. I really wanted to focus on addressing social injustices and ensuring that everybody has access irrespective of your race, class, disability, gender, you know. And so that in many ways was, I guess, the platform that I came from.
Moderation: Charlotte McClain-Nhlapo wuchs in einem Haushalt auf in dem viel über Politik gesprochen wurde. Ihr Vater war Professor für Jus. Auch sie schlug diesen Weg ein. Sie studierte Rechtswissenschaften in Polen und in den USA. Gesetze sind für sie von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht soziale Ungerechtigkeiten zu bekämpfen. Ihr Schwerpunktthema bis heute: Menschenrechte. Jeder und jede soll die gleichen Rechte und Chancen haben, unabhängig von Hautfarbe, Behinderung oder Geschlecht. Seit Dezember 2014 ist Charlotte McClain-Nhlapo „Global Disability Advisor” für die Weltbank. In dieser Funktion achtet sie darauf, dass Programme und Projekte der Weltbank von Beginn an inklusiv gestaltet sind. Warum ist es so wichtig, dass sich Institutionen, wie die Weltbank mit Inklusion auseinandersetzen?
McClain-Nlapo: So the bank is, um, I guess, the preeminent development actor, right? And we're not a typical bank in the sense of a commercial bank. And a lot of the work that the bank does is developing knowledge. And so in developing knowledge, it's important for us to think about what this means for inclusion and, and start that dialogue and the narrative around the value added of inclusion. The other part of the work that we do is that we provide lending and concessional grants that are to meet our twin goals that are to boost shared prosperity and eliminate poverty. And you can't do that if you're not including 15% of the world's population persons with disabilities. And so it's incumbent on us to ensure that when we look at populations and we look at who are often the poorest within those populations, that we recognize that persons with disabilities are present and we ensure that they're part of what we do. Um, and then I think it's also just, um, useful to note that about 184 countries have now ratified the Convention on the Rights of Persons with Disabilities. So they have legal obligations in their own countries to include persons with disabilities.
Moderation: Die Weltbank - mit Sitz in Washington DC - ist keine klassische kommerzielle Bank. Die Weltbank-Gruppe umfasst fünf Organisationen, darunter die Internationale Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Gegründet 1944 sollte die UN-Organisation den Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg ermöglichen. Heute hat es sich die Organisation zum Ziel gesetzt die wirtschaftlicher Entwicklung in ärmeren Staaten zu verbessern und Armut zu bekämpfen. Eine Maßnahme ist die Vergabe von Krediten zur Verbesserung der Infrastruktur. Um wirklich nachhaltige Projekte mit Mehrwert zu starten, müsse man laut Charlotte McClain-Nhlapo alle Menschen mitdenken. 15 Prozent der Weltbevölkerung, so viele Menschen haben weltweit eine Behinderung, zu ignorieren wäre vollkommen kontraproduktiv. Außerdem haben sich viele Staaten verpflichtet die Rechte von Menschen mit Behinderung zu schützen: 184 Länder haben die UN-Behindertenrechtskonvention bislang ratifiziert.
Udo Seelhofer: You just mentioned that these countries have an obligation to include people with disabilities. The obligation is there, but sometimes they are lacking in doing it. How can you, um, how can the World Bank push these countries a little bit just to act a little bit faster?
McClain-Nlapo: So, I mean, I don't think our role is to push. I think our role is to create the knowledge, to share the knowledge, to partner with organizations of persons with disabilities, um, to work with governments so that they understand the importance of, um, inclusion. And, and I think, you know, for many people, it's still very much a learning curve, right. We're learning about how do we include persons with disabilities in development. And there are some very good examples. But again, those examples that need to go to scale. And I think the other important message, certainly from the bank side, is to show that including persons with disabilities is not just a good thing, as per the Convention on the Rights of Persons with Disabilities. But it's also-, it makes economic sense because you're bringing people into the fold and you're enabling people to participate and you're empowering people to have voice in the communities in which they live. And so I think those are all really important pieces.
Moderation: McClain-Nhlapo denkt nicht, dass es die Rolle der Weltbank sei, Länder zu strafen, damit sie mehr tun. Sie sieht die Aufgabe der Organisation darin, Wissen zu generieren und zur Verfügung zu stellen. Weiters sei es Aufgabe, mit Behindertenorganisationen zusammenzuarbeiten und den Gedanken der Inklusion an Regierungen heranzutragen. Eine andere wichtige Botschaft für sie ist, dass Inklusion nicht nur eine gute Sache ist, weil dadurch Menschen eine Stimme verliehen wird, sondern Inklusion bringe auch wirtschaftliche Vorteile.
Udo Seelhofer: What progresses are you the most proud of?
McClain-Nlapo: So I think we've made a lot of progress in the bank since I joined in 2004. And I think some of the, the progress that I'm most excited about is that we now have within the institution an authorizing environment to advance disability inclusive development. So it's no longer seen as, um, a side, you know, a side, a fringe issue. It's very much an issue that's becoming mainstreamed within World Bank projects. And so, so that makes that, that makes me very proud. Um, we've seen as a result of that, more finances being channeled towards disability inclusion. And, and I think the other part that I'm really proud of is that we now see a lot more people at the World Bank, World Bank staffers who are engaged and driving the disability agenda. So it's no longer the small disability team that's doing it. It's had a ripple effect within the institution and there are a lot more colleagues that are invested and engaged in advancing disability inclusion in their respective work.
Moderation: Bei der Weltbank begonnen hat Charlotte McClain-Nhalpo im Jahr 2004. Nach sechs Jahren wechselte sie zur „United States Agency for International Development“ und kehrte 2014 zur Weltbank zurück, um dort wie eben beschrieben als „Global Disability Advisor“ zu wirken. Seit ihrem Einstieg 2004 habe sich vieles zum Positiven verändert. Es gäbe nun ein Umfeld, in dem es für inklusive Maßnahmen Bewusstsein und Veränderungsbereitschaft gibt. Somit wird diese Thematik eine zentrale Führungsaufgabe. Es sei auch schön, dass der Inklusionsgedanke bei immer mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ankommt und nicht nur von einer vergleichsweise kleinen Inklusionsabteilung vorangetrieben wird.
Udo Seelhofer:During your keynote speech you mentioned the importance of assistive technologies and innovations and how important it is to include people with disabilities in the developmental process. What kind of unique insights can they give?
McClain-Nlapo: Well, I think, you know, there's no better group to provide insights than the actual user. And so if persons with disabilities and the range of disabilities is included, um, in the pre-designed phase of technology of assistive technologies, it often then speaks to the specific needs of persons with disabilities. And we have to remember that persons with disabilities come on a spectrum. And so you need to be able to ensure that you're bringing in as diverse a group to ensure that you are then developing a product that can be flexible and usable to a wide range of users. I think the other important point to make there is that persons with disabilities live in urban cities, they also live in rural areas. And you need to think about when you design products, this might work for an urban setting, but it may not work in a rural setting. And so, again, working with persons with disabilities to understand what the specific needs are and understanding the context is very, very important.
Moderation: Im Rahmen der Zero-Conference hielt Charlotte McClain-Nhlapo eine Keynote Speach im österreichischen Parlament. Darin betonte sie, wie wichtig es ist Menschen mit Behinderung in die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen miteinzubeziehen. Je früher Menschen mit Behinderung einbezogen werden, desto besser kann auf ihre Bedürfnisse und Bedarfe eingegangen werden. Die Inklusions-Expertin betont, dass es sich bei Menschen mit Behinderung, um eine sehr inhomogene Gruppe handelt. Je mehr unterschiedliche Gruppen einbezogen werden, desto besser. So könne sichergestellt werden, dass ein Produkt oder eine Dienstleistung von möglichst vielen Menschen genutzt werden kann. Wichtig sei es sich auch zu überlegen in welchem geografischen Raum das Produkt Anwendung findet. Am Land gelten andere Voraussetzungen als in der Stadt.
Udo Seelhofer: If you are the developer and you want to sell a product, you want to sell it to everybody, of course.
McClain-Nlapo: Well, absolutely. It opens- you, you start to target a niche market, and then you find that that market is not niche anymore and that that market actually is the mainstream. So it really does help you reach a much larger population and it helps you with, with your sales and your products.
Moderation: Gemeint ist hier, dass man nicht speziell Produkte für Menschen mit Behinderung kreiert, sondern Produkte, die für allen Menschen nutzbar sind.
Udo Seelhofer: Okay. You also mentioned that you work with different groups in the World Bank and investment groups, peer-to-peer networks. What were the central learnings?
McClain-Nlapo: So some of the central learnings were that, again, it's really important to ensure that you work with organizations and persons with disabilities in the design of the project. The other thig that I think is also really important when we think, when we did, um, the projects was to look at how do we take these projects to scale? Because often we start these projects off as relatively small, but how do we take them to scale so that they can be sustainable and that they can reach larger population groups?
Moderation: Charlotte McClain-Nhlapo betont, wie wichtig es ist Behindertenorganisationen und betroffene Menschen miteinzubinden. In weiterer Folge sei es wichtig, dass Projekte eine gewisse Größenordnung erreichen, sodass sie nachhaltig sind und eine größere Zahl von Menschen davon profitieren. Oftmals starten Projekte in sehr kleinem Rahmen und eine der zentralen Fragen ist: wie sie in größeren Dimensionen ausgerollt werden können.
Udo Seelhofer: What are the biggest challenges when you scale such a project, as you said?
McClain-Nlapo: Well, I think some of the big challenges around scale is finding investors to, to take innovations to scale, right?, and that's often the big, the big piece that's missing. And then I think when we do take, um, these type of design projects to scale, we need to ensure that the investors stay engaged because things change really quickly, right?, and so projects need to be updated, products need to be updated, and you need to continue to have an investment present. I think the other important challenge is ensuring that it's not seen as, um, something that's coming from the outside, but that it's owned by the country and the people in that you're supporting. And so having governments supporting that and having organizations with disabilities behind either the development of products or services is, is very important.
Moderation: McClain-Nhlapo unterstreicht, dass es Investoren braucht, die auch langfristig dabeibleiben. Das sei oftmals schwierig. Es gilt das Produkt weiterzuentwickeln. Wichtig sei es, dass Behindertenorganisationen und Betroffene von Anfang an, eingebunden werden. Das war ein Gespräch von Udo Seelhofer mit Charlotte McClain-Nhlapo.
Moderation: Um die Rechte von Menschen mit Behinderungen geht es auch im zweiten Teil dieses Podcasts. Als Kind wollte Katrin Langensiepen die Tagesschau im deutschen Fernsehen moderieren. Doch man sagte ihr: Mit einer offensichtlichen Behinderung geht das nicht! Geboren wurde Katrin Langensiepen am 10. Oktober 1979 in Langenhagen in Niedersachsen. Aufgrund einer Erkrankung, des TAR-Syndroms, fehlen ihr die Speichen an den Unterarmen, sie hat also verkürzte Arme. Heute ist sie für die deutschen Grünen Abgeordnete im EU-Parlament. Zu Beginn des Gesprächs erinnert sich Katrin Langensiepen an Momente zurück, in denen es weniger darum ging, was sie werden möchte, als darum, was sich andere für sie vorstellen konnten.
Langensiepen: Na, ich kann mich erinnern, als Jugendliche, als es um die Frage ging: Was möchtest du werden? Wie soll es weitergehen? Nach der zehnten Klasse wird einem ja die Frage gestellt: berufliche Orientierung und irgendwie kam am Ende des Tages raus: Na ja, also irgendwie wissen wir nicht wirklich, was wir mit der anfangen sollen. Und geh mal ins Büro. Die Tätigkeit an sich ist ja nicht schlecht, aber ich hatte eigentlich ganz andere Vorstellungen. Ich wollte Journalistin werden und das wurde überhaupt nicht gehört! Und in die Richtung wurde eigentlich gar nicht hin beraten, sondern eher: Was machen wir mit ihr? So ein Verwahrgedanke und keine wirkliche Beratung oder gucken, was man kann. Und da wurde ich in so eine Kiste gesteckt. Und warum ist das in Stein gemeißelt? Wer sagt das, dass das nicht geht? Und das war so der erste Wutmoment, den ich bewusst erlebt habe!
Alle Fragen von Sandra Knopp: Sie wollten ja, genauer gesagt Tagesschau-Sprecherin werden. Was haben die Leute da gesagt, dass sie das gemeint haben, oder in welchem Rahmen haben sie das auch gesagt?
Langensiepen: Wie gesagt, ich wollte immer Journalistin werden und ich wollte dann die Nachrichten ansagen, vor der Kamera stehen, also nicht mich irgendwie verstecken. Das war damals, 1994/95/96 und ich glaube, so der erste Mensch in der Öffentlichkeit war Wolfgang Schäuble mit einer Behinderung, den man so kannte. Aber es wurde einem gesagt: Also da musst du erstmal Journalismus studieren. Das sind ziemlich hohe Hürden und du musst Leute kennen. Aber dir muss auch klar sein, irgendwie jemand mit einer sichtbaren Behinderung, ob man den auch vor die Kamera lässt. Und das klingt vielleicht böse, aber es ist ja die Wahrheit. Wo sind denn die Menschen mit Behinderung in der Medienlandschaft? Also man lässt sie ja nicht vor die Kamera aus unterschiedlichen Gründen oder sie sind dann in besonderen Inklusionsformaten, aber nicht außerhalb dieser Behinderungsthematik. Und da müssen wir wirklich suchen wie die Nadel im Heuhaufen. Und das war so der Antrieb.
Aber Journalismus generell hat Sie einfach fasziniert, News zu berichten`? Oder was hat Ihnen daran getaugt?
Langensiepen: Das Reisen. Reisen, Leute kennenlernen, Sprachen sprechen, andere Länder. Das habe ich ja jetzt auch im Europaparlament. Also im Prinzip ist es ja schon so in die Richtung gegangen. So meine Grundkompetenzen kann ich ja hier anwenden, aber das war ein langer Weg.
Sie sprechen es an: EU Parlament. Sie sind seit 2019 EU-Abgeordnete für die Grünen. Jetzt hätte mich interessiert. Sie haben gesagt, Sie sind die einzige Frau mit einer sichtbaren Behinderung. Ist das immer noch so? Und wie würden Sie jemanden, der Sie vielleicht nicht sehen kann, Ihre Behinderung beschreiben?
Langensiepen: Genau. Ich kann mich gerne kurz beschreiben. Ich bin 1:52 groß. Ich habe mittellange, grau braun, blonde Haare, ein bisschen weiß dazwischen. Ich trage eine Brille, ich habe eine bunte Bluse an und ich habe leicht verkürzte Arme. Das ist eine seltene Erbkrankheit. Und im Europaparlament bin ich nicht die einzige Frau mit Behinderung. Nicht mehr. Ich bin auch nicht die erste. Aber als ich einzog, war ich die Einzige. Jetzt nach Corona, wo wir uns auch alle mehr wieder sehen und kennenlernen, ist eine Frau im Rollstuhl aus Polen, ist jetzt dabei und eine Kollegin aus Luxemburg, die wird blind und das ist halt im Laufe ihrer Mandatszeit jetzt zutage getreten. Und somit sind wir drei Frauen, insgesamt sechs Menschen – selbst mit nicht sichtbaren Behinderungen hat sich keiner gemeldet. Also ich habe ja auch rumgefragt. Bisher weiß ich von 6 von 705 Abgeordneten.
Jetzt haben sie am Anfang gesagt, sie waren wütend, sie wurden in Schubladen gesteckt. Das hat ja schon in der Kindheit begonnen. Wo man Ihrer Mutter gesagt hat, wird sie jemals schreiben können und Ihre Mutter hat ganz cool geantwortet:
Langensiepen: Sie kann ja auch malen!!! Also meine Eltern haben sich nie Gedanken gemacht, was wird in zehn Jahren, was wird in 15 Jahren, was wird in 20 Jahren? Es wurde immer geguckt: Wie geht es ihr jetzt? Wie ist der gesundheitliche Zustand? Was schafft sie? Was kann sie? Und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, wie man immer so schön sagt, wird das gemacht. Ich bin auf eine Regelschule gegangen. Das war ein harter Kampf für meine Eltern. Wie gesagt, kann sie denn auch schreiben? Nachher kam raus: Ich kann sehr gut schreiben, ich kann nur nicht rechnen. Ich habe Dyskalkulie, hat man 20 Jahre später rausgefunden und somit war die Mathematik mein Problem und nicht das Schreiben. Tasche tragen konnte ich auch, aber das waren alles so Sachen, also wenn es das ist, muss ich nicht auf eine Förderschule. Ich kam vom Dorf am anderen Ende der Stadt ist und wo sie dann ihre Freunde nachmittags nicht sieht und wo sie keine sozialen Kontakte hat, weil die alle irgendwie verstreut sind. Und dann bin ich auf eine Regelschule gegangen in einem sehr schwarzen ländlichen Dorf und war das einzige Mädchen mit Behinderung. Es gab noch der Bruder meiner besten Freundin hatte eine Lernschwierigkeiten und wir beide waren die Kinder mit Behinderung auf der Schule. Und es war kein Zuckerschlecken.
Im Sinne von?
Langensiepen: Naja, du wirst reingeschmissen ins Haifischbecken – sink oder schwimme. Und das ist natürlich nicht der Gedanke von Inklusion. Auch ist es nicht der Gedanke von Inklusion, dass du dann das einzige Kind bist mit einer Behinderung. Ich glaube, das war für mich auch in meiner Jugend ein wichtiges Thema. Wo sind denn auch andere Menschen mit Behinderung? So ein bisschen Identifikation, was man auch vielleicht in der Pubertät hat. Da hilft es nicht, dass da jetzt auch ein Rollifahrer ist oder noch vielleicht ein blindes Kind. Weil wir sind keine homogene Masse. Also viele glauben ja, ja die Behinderten, die kennen sich ja alle untereinander und es ist ja alles gleich. Nee, sind wir nicht. Und auch selbst wenn man vielleicht Menschen mit Trisomie nimmt, da hast du ein Kind mit Trisomie und noch ein Kind mit Trisomie. Die sind aber total unterschiedlich. Also zu glauben, wenn wir jetzt das so machen, dann haben wir Inklusion und dann sind alle glücklich und dann haben wir keine Probleme mehr. Nein, wir reden ja über Individuen. Und wie kann man einen Schulraum schaffen, einen Bildungsraum schaffen, wo man flexibel auf das reagiert, was ein Kind mitbringt? Das ist keine eins zu eins Betreuung. Wenn das erst mal läuft, dann kann man das auch schaffen. Ich gucke mir ja auch Schulen an, wo es geht, wo es auch schon länger funktioniert. Da gibt es auch mal eine Hürde, da gibt es auch mal eine Herausforderung. Ja, aber so ist das Leben. Also satt, sauber, trocken, versorgt und bloß nicht anecken. So ist das Leben nicht. So funktioniert es nicht.
Das stimmt. Sie haben auch gesagt, in diesem einen Vortrag, den ich gehört habe, es war ja dann so: Sie waren in einem Kibbuz in Israel, Sie haben dort gearbeitet, Sie waren in den Niederlanden, haben ein Bachelorstudium begonnen, aber Sie haben gesagt, Sie haben eine Zeit lang das Gefühl, Sie scheitern. Aber Sie haben das Gefühl, Sie dürfen nicht scheitern, weil Menschen mit Behinderung dürfen nicht scheitern! Wie haben Sie diese Zeit eigentlich auch, wie kann man sagen überwunden? Oder wie sind Sie mit dieser Zeit auch umgegangen?
Langensiepen: Also erst mal ist Scheitern scheiße. Es ist furchtbar, wenn eine Beziehung kaputt geht, wenn Freundschaften kaputtgehen, wenn man sich etwas vornimmt. Man hat ein Ziel und man erreicht es nicht, weil im Nachhinein würde ich sagen, es war nicht das Ziel, ich sollte nicht dieses Studium machen, ich sollte ins Europaparlament. Das ist jetzt vielleicht eher eine philosophische Frage, aber ich bin an dem Bachelorsystem gescheitert. Ich halte es für ein sehr unsoziales und nicht inklusives System. Und Scheitern macht Angst, weil wie geht es weiter? Auch sich anzuerkennen, du kommst hier nicht voran, das wird hier nix. Und dann die Reißleine zu ziehen, das sind Entscheidungen. Und wenn du ein gutes Umfeld hast, das dich auffängt, dann ist das super. Aber mein Antrieb, mein Motor war immer: Ich muss immer sehen, dass ich irgendwie selber klarkomme, weil meine Eltern sind irgendwann nicht mehr da. Natürlich ist dann irgendwann die Frage: Was machen behinderte Menschen? Und da sollte man als Tipp frühzeitig überlegen okay, wie kann ich mir meine Jugend gestalten? Wie können wir auch bei schwerst mehrfach Behinderten es so hinkriegen, dass wir vorbereitet sind, wenn Eltern älter werden und dass das nicht vom Himmel fällt! Und dieses Scheitern war furchtbar. Aber natürlich nimmt man da auch viel von mit. Und ich bin ein sehr aktiver Mensch. Ich heul mich vielleicht mal zwei, drei Tage in die Kissen und dann ist aber auch wieder Tränchen getrocknet und dann muss es weitergehen, weil ich brauche ja irgendwie eine Ausbildung und dann habe ich mich auf meine Stärken zurück besonnen. Ich bin wieder in mein Kinderzimmer gezogen, aus der Studentenstadt, wieder zurück zu Mama und Papa. Das war für beide Seiten nicht toll. Und dann muss man sich überlegen okay, was kannst du und was sind deine Kompetenzen, was interessiert dich? Und daraufhin habe ich dann eine Sprachenausbildung, eine Fremdsprachenausbildung gemacht, mit Schwerpunkt Übersetzung, und habe dann erst mal überlegt, wenn ich das dann habe, dann sehen wir weiter. Ich habe nie nachgedacht, aber wo bin ich in zehn Jahren? Oder Das war nicht mein großer Masterplan in zehn Jahre bist du im Europaparlament. Nee, also ich habe auch immer geguckt, okay, das ist jetzt die Situation und damit muss ich umgehen und wie gehe ich damit um.
Und welche Schritte haben Sie eigentlich dann ins Parlament gebracht? Weil die Sprachausbildung war der eine Schritt und dann kam die Wirtschaftskrise und Sie waren wieder vor der Entscheidung: Was mache ich jetzt? Und was ich auch gehört habe, sie waren wieder wütend. Aber wie sind Sie damit umgegangen? Wie haben Sie das kanalisiert, um ins Parlament zu kommen?
Langensiepen: Also ich bin, glaube ich, vom Charakter her ein Mensch, der Wut in Aktion verwandelt. Ich bin ein aktiver Mensch, ich kenne es aber auch von meinen Eltern. Mein Vater hat mit Ende 40 seine Arbeit verloren und er hat sich eine Zeit beworben und ja in dem Alter ging halt nichts mehr und hat halt aus dieser Zeit dann entschieden, sich selbstständig zu machen und ist mit 50 in die Selbstständigkeit gegangen, erfolgreich und hat das, was er vorher gemacht hat, selbst als selbstständig gemacht - war es auch eine Vorbildfunktion und auch meine Mutter. Ich habe meine Eltern nie verzweifelt gesehen. Das haben sie auch nie gezeigt. Natürlich hat meine Mutter auch mal abends da gesessen und gesagt: Ich kann nicht mehr, ich weiß nicht weiter. Und ich heule mal. Also das hatten wir auch. Aber dann heult man und dann geht es auch wieder weiter. Weil was ist der Sinn von: Ich verstecke mich? Bringt mich nicht weiter. Und ich glaube, dieses weiter, ist so der Antrieb. Und dann als ich mit meiner Ausbildung fertig war, war die Finanzkrise. Dann hatte ich für zehn Tage mal einen Call Center Job im Rahmen der Zeitarbeit für 5 € netto die Stunde. Danach war ich vier Wochen krank und habe mir auch immer überlegt okay, nimm das mal als Sozialstudie. Also wie geht es eigentlich jungen Menschen in der Finanzkrise? Da war ich auch nicht die Einzige. Es ging ja vielen Menschen in meiner Generation 2007/2008/2009 so in Spanien, in Italien, in Griechenland noch viel, viel schlechter. Was bedeutet das beutet Europa für Jugendliche? Und dann? Stuttgart 21 war ein Punkt, da sollte ja der Bahnhof gebaut werden. Bäume wurden gefällt und da sind Wasserwerfer in Demonstranten reingegangen. Und das war dann auch noch mal so ein Knickmoment und Klick Moment, wo ich dann gedacht hab So, jetzt also alleine kommst du ja nicht weiter, du musst dir Verbündete suchen und das ist immer ganz, ganz wichtig. Also ich rede nicht von Einzelkämpfertum, weil das zieht Kraft. Das hältst du keine 40 Jahre durch, also suche dir Verbündete. Und dann bin ich nach Abwägung den Grünen beigetreten und hatte da das Glück, dass wir Kommunalwahlen hatten 2010 bin ich beigetreten und habe ein soziales Profil gehabt. Aber ich habe nicht gesagt: Jetzt mache ich Behindertenpolitik. Das war überhaupt nie mein Plan! Und bin in die Sozialpolitik gegangen. Und da hieß es: Wir brauchen Kandidierende. Grüne scheinen wohl erfolgreich zu werden und wir brauchen dich. Und da fühlte ich mich angesprochen, weil bisher hörte ich immer so das Gegenteil, so nie Danke und tschüss. Und dann habe ich mich da auf den Weg gemacht. Ich habe sehr viele genetworkt, ich habe sehr viel recherchiert. Das Internet war für mich ein Segen, muss ich sagen. Ich konnte endlich Leute kennenlernen. Ich konnte mir Informationen suchen und finden, die ich brauchte. Somit sind Informationen, um Entscheidungen zu treffen, sehr wichtig. Informationen in Leichter Sprache, barrierefreie Informationen, dass ich als behinderter Mensch das entscheiden kann und niemand anders, aber die andere Person mir bei der Entscheidungsdurchführung hilft. Und dann war ich sehr lange im Kommunalparlament in Hannover und da war ich die einzige Frau mit Behinderung. Der einzige Mensch mit Behinderung war nie mein Thema, es war Armut. Es waren die sozialpolitischen Themen, die vor Ort relevant waren.
2018 wurde klar, dass die Grünen-Abgeordnete Rebecca Harms, die sich sehr stark in der Anti-Atomkraft-Bewegung engagiert hatte, nicht mehr für das EU-Parlament kandidieren würde. Katrin Langensiepen wurde gefragt, ob sie sich vorstellen könne fürs Europa-Parlament zu kandidieren.
Langensiepen: Und dann gab es die Unterstützung und dann haben wir uns auf den Weg gemacht. Aber ich habe auch zehn Jahre in der Partei Arbeitsgruppen geleitet, bin viel auf Parteitagen gewesen, also es war nachher auch für mich ein Job, weil ich keinen anderen Job hatte. Dann kann man sagen okay, das das Ehrenamt hat mich dahin gebracht. Warum sind dann auch viele Menschen mit Behinderung im kommunalen Ehrenamt? Weil sie sonst nirgendwo eine Tätigkeit kriegen. Es ist Ehrenamt, das ist alles gut. Ich schätze das Ehrenamt sehr, aber es darf nicht ein Ort sein – wo na ja, da sind dann die Leute, die wir sonst in der Gesellschaft nicht mehr brauchen. Und die können für umsonst arbeiten und ehrenamtlich sich den Popo aufarbeiten. Und deswegen ist es wichtig, dass wir behinderte Menschen in die Politik, in Entscheidungspositionen, in Machtpositionen kriegen. Also ich benutze auch das Wort Macht ganz bewusst. Robert Habeck hat mal gesagt Macht kommt von machen und da mag man mich prügeln. Wir brauchen nicht den dritten Inklusionstisch, wir brauchen nicht die nächste Runde, wo wir dieses oder jenes diskutieren. Wir müssen klar in den Institutionen, in den politischen Parteien, Gewerkschaften, in allen Bereichen muss die Spitze, vor allem die Spitze, die Führungsebene wollen, dass wir eine vielfältige Führung haben, dass wir auch Menschen mit Behinderung unterschiedlichster Behinderungen in Führungspositionen/Gremien haben - so wie mit Frauen.
Moderation: Das war ein Auszug aus dem Gespräch mit Kathrin Langensiepen. Sie ist aktuell im EU-Parlament stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten. Das ungekürzte Gespräch, in dem es unter anderem um die Situation von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt geht, könnt ihr im Podcast von dabei-austria nachhören. Den Link dazu findet ihr in den Shownotes. In unserem Podcast Freakcasters findet ihr einige spannende Episoden über Frauen mit Behinderung, die außergewöhnliche Lebenswege beschritten haben. Darunter die britische Inklusionsaktivistin Shani Dhanda oder die E-Rolli-Fußballerin und Geschäftsführerin der WAG-Assistenzgenossenschaft Jasna Puskaric oder Julia Moser. Sie hat eine Seh- und eine Höreinschränkung und arbeitet als Geschäftsführerin für Licht in die Welt Österreich. Diese Folgen findet ihr unter freakcasters.simplecast.com. Wenn euch diese Episode gefallen hat, empfehlt uns bitte weiter. Und vergesst bitte nicht, unseren Kanal zu abonnieren. Wir freuen uns auch über eine gute Bewertung. Am Mikrofon verabschiedet sich Sandra Knopp.